Eni war ein sehr liebes Kind. Manchmal war sie ein bisschen frech, meist wenn sie etwas besonders feines zu Essen ergattern konnte. Manchmal war sie etwas schüchtern. Das kam vor, wenn sie Jungs zu wild fangen spielten und sie Eni lachend an der Schulter anstießen. Sie mochte die bunten Schreibhefte, Karamellbonbons von ihrer Tante und ihr Plüscheinhorn (das tatsächlich ein braunes Pferd war aber stets nur Einhorn von ihr genannt wurde).
Einhorn begleitete sie auch zu ihren Klavierstunden. Zu denen ging die kleine Eni einmal die Woche, immer dienstags um 16.15 Uhr. Einhorn saß dann auf dem schwarzen Lack und sah freundlich auf das Mädchen, dass sich da mit den vielen Tasten abmühte. Besonders viel Spaß machte Eni Klavierspielen nicht. Das lag an der strengen Lehrerin, die sie die schwierigen Stellen, an denen ihre Finger die richtige Taste nicht schnell genug gefunden hatten oder sich auf der Suche sogar in der Nachbarschaft verirrt hatten, immer und immer wieder spielen ließ. Sie war etwas hart.
Irgendwann trat die kleine Eni zu ihrer Mutter und bat darum, mit dem Klavier aufhören zu dürfen. Warum, fragte die Mutter. Weil es nicht so viel Spaß macht, sagte Eni. Ich finde es aber gut und wichtig, dass du ein Instrument spielst, sagte die Mutter. Eni schüttelte nur leise den Kopf und sagte nichts mehr. Wäre dir Klarinette vielleicht lieber, fragte die Mutter. Eni schüttelte nur wieder den Kopf, sie wolle nicht mehr spielen, es wäre immer so schwer. Das ist aber wichtig, sagte die Mutter, das tut dir gut wenn du ein Instrument spielst, du musst jetzt dabei bleiben und nicht ständig alles abbrechen.
Eni spielte weiter Klavier, mochte nun lieber Marshmallows als Karamell – am liebsten über dem Lagerfeuer geröstet und manchmal küsste sie den Jungen, der neben ihr saß. Wenn ihre Eltern sich anschrien versteckte sie sich im Kleiderschrank, hielt sich die Ohren zu und wünschte sich, der schüchterne Junge wäre ihr Freund zu dem sie gehen und übernachten könnte. Aber das war er nicht. Und zwei Wochen später war er mit einem anderen Mädchen zusammen, das viel engere Jeans trug.
Als ihre Eltern das nächste Mal streitend durch die Wohnung rannten, nahm Eni ihre Fingernagelschere. Die Katze hätte ihr die Arme zerkratzt, erzählte sie ihren Freundinnen, die besorgt schauten. Sonst bemerkte es niemand. Außer der Mathelehrerin. Eni, kann ich einmal in Ruhe mit die sprechen, sagte die Mathelehrerin. Eni schluckte, nahm Platz, hörte zu, sprach nicht und weinte stattdessen. Ob sie mit einem Gespräch mit ihren Eltern einverstanden sei, fragte die Mathelehrerin. Eni schluchtze. Und nickte.
Ihre Eltern kamen beide. Ihr Vater war bestürzt. Und machte dann ein paar lustige Sprüche. Ihre Mutter war auch bestürzt und versprach der Mathelehrerin sich sehr gut um ihre Tochter zu kümmern. Dann verließen sie das leere Klassenzimmer. Ihr Vater holte schon einmal das Auto, dass er neben der Turnhalle abgestellt hatte. Die Mutter dreht sich zu ihr um. Eni, jetzt reiß dich wirklich zusammen, sagte die Mutter. Nicht mehr. Eni starrte sie an. Hast du mich verstanden, fragte die Mutter. Eni nickte.
Irgendwann hörte Eni doch auf Klavier zu spielen. Es war ihrer Mutter mittlerweile egal. Und auch Caramel und Marshmallows aß sie nicht mehr, denn davon wurde sie zu dick und so würde sie überhaupt kein Junge mehr küssen. Die Mathelehrerin unterrichtete nun eine andere Klasse und Eni musste sich auf ihren Abschluss vorbereiten. Eni, das war die frühere Mathelehrerin, die sie am Arm zupfte. Eni, kann ich noch einmal mit dir sprechen, fragte sie. Nein, ich kann nicht, ich muss lernen und habe keine Zeit. Die frühere Mathelehrerin nickte und reichte ihr einen kleinen Zettel. Das ist die Nummer einer Beratungsstelle, da kannst du anrufen, wenn du mit jemandem reden möchtest oder jemanden brauchst, der dir hilft, wenn dir das alles zu viel wird, sagte sie. Eni nickte leise. Sie steckte den Zettel zwischen ihre Bücher.
Im Büro der Ärztin weinte sie wieder. Die Ärztin war verständnisvoll und fragte nur worauf Eni mit einem Nicken oder Kopfschütteln antworten konnte. Nach einer Stunde beriet sie sich kurz mit einem Kollegen. Wir raten dir zu einer stationären Behandlung, sagte die Ärztin dann. Eni nickte leise. Ob jemand sie abholen würde, fragte die Ärztin. Wieder nickte Eni und schluckte.
Dieses mal war ihre Mutter wirklich wütend. Nicht das heiße, rote wütend, wenn sie durch das Haus stapfte und schrie. Sondern das kalte wütend. Eni, sagte ihre Mutter. Eni, wenn du in diese Klinik gehen willst, dann geh. Ich weiß nicht, wie das dann mit deinem Abschluss gehen soll und was du dann machen willst. Niemand von uns hat jemals so etwas gebraucht. Deinen Großeltern erzählst du das selbst. Dein Vater wird das gar nicht lustig finden, was er alles für dich getan hat! Du könntest wirklich etwas weniger empfindlich sein! Eni, du reißt dich jetzt endlich mal zusammen!
Eni schüttelte den Kopf. Und sagte dann ganz leise, ich werde das nicht tun. Ich reiße mich nicht mehr zusammen. Ich höre jetzt damit auf.