Schuld ist ein seltsames Wort. Es ist verdammt abstrakt und überladen mit emotionalen Inhalten. Im Richtigen Moment kann es einem geradezu das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Dabei kennen gar nicht so viele Menschen dieses Wort. Im Tibetischen sucht man es vergebens. Der Tibeter versteht Verantwortung und Fehler aber von Schuld hat er noch nie gehört. Kann zu lustigen Übersetzungsproblemen führen.
Und die Tibeter sind nicht das einzige Volk, dass mit Fehlverhalten anders um geht. Werfen wir dafür einen kurzen Blick nach Afrika: Wir befinden uns im Hochland von Sambia. Savannen bedecken die Hochebenen. Durch das dichte, gelbe Gras hüpft eine flinke Gazelle. Dies ist das Land, in dem der Stamm der Babember lebt.
Eines Tages begeht ein Babember einen Fehler. Man bringt ihn in die Mitte des Dorfes, dort wartet er zwischen den Hütten auf die Ahndung seines Verbrechens. Er ist weder gefesselt noch bewacht, es hält ihn niemand ab zu fliehen. Die ganze Dorfgemeinschaft versammelt sich und alle Mitglieder formieren sich in einem engen Kreis um den Delinquenten. Dieser findet sich nun allein in der Mitte, umgeben von seinen Stammesmitgliedern, die sich gegenseitig an den Schultern gepackt halten.
Reihum ist es nun an jedem zu sprechen. Eltern, Brüder, Schwestern, Freunde, Nachbarn, Konkurrenten alle kommen nach und nach zu Wort. Bis jeder gesprochen hat können Stunden bis hin zu Tagen vergehen. Jeder einzelne wird dem Übeltäter bis ins Detail ausführen, was er an ihm schätzt, über welche Stärken er verfügt und ihm jede einzelne gute Tat wachrufen, die er jemals begangen hat. Das kann sich hinziehen.
Am Ende der Zeremonie wird der Kreis geöffnet. Es steht dem Babember, der den Fehler begangen hat nun offen, seinen Stamm zu verlassen, wenn er dies wünscht. Andernfalls wird er wieder Teil der Gemeinschaft, die Umstehenden packen ihn an den Schultern und nehmen ihn wieder auf, und zur Feier des Ereignisses gibt es ein großes Fest.
Begeht ein Babember einen Fehler wird er weder angeklagt noch erhält er zu irgendeinem Zeitpunkt eine Strafe. Stattdessen werden ihm nur seine guten Eigenschaften vor Augen geführt, denn die Babember glauben, dass er den Fehler nur beging, weil er kurzzeitig das Gute in sich vergessen hatte.
Interessantes Konzept! Und ein faszinierendes Ritual. Integration statt Abgrenzung. Liebevolle Freundlichkeit anstatt harscher Urteile. Könnte man sich dran gewöhnen. Dabei passiert mir ständig das Gegenteil. In Hamburg kann ich mich kaum zehn Minuten im öffentlichen Verkehr bewegen, ohne dass mir ein anderer Verkehrsteilnehmer lautstark hupend klar macht, für was für einen Idioten er mich hält.
Zugegeben, das Beispiel passt nur mittelmäßig aber ich möchte auf die hartnäckige und omnipräsente Grundeinstellung des du-hast-was-verkehrt-gemacht-fahr-zur-hölle hinaus. Erst Strafe, dann vor die Tür setzten. Das ist die Behandlung, die bei Fehlverhalten droht.
Dieses Unwetter geht über einem nieder, egal ob etwas in der Familie schief läuft oder einen das Gesetz hinter Gitter schickt. Besser wird’s davon aber nicht unbedingt.
Denn was einem da widerfährt ist eindeutig negative Aufmerksamkeit. Also nicht angenehm. Aber immer noch Aufmerksamkeit. Und wer nicht gesehen wird, erfährt lieber in einem schlechten Licht Beachtung als gar nicht. Und was einmal funktioniert hat, probiert man beim nächsten Mal wieder.
Ein Babember bekommt keine negative Aufmerksamkeit. Ganz im Gegenteil wird er auf das Härteste mit seinen Stärken konfrontiert. Vielleicht kämen wir alle etwas besser miteinander zurecht, wenn wir es ähnlich handhaben würden.
Mich interessieren eure Geschichten! Ist euch so etwas schon einmal geschehen? Oder etwa das Gegenteil widerfahren? Erzählt mir davon!